The March of the Women – Suffragetten-Taten fürs Pantoffelkino

von vergessenen Komponistinnen, Musik als Katalysator und einer ganz persönlichen Anekdote zum Film

Blogbeitrag von Susanne Wosnitzka

© DVD Suffragette / Concorde Home Entertainment http://www.suffragette-film.de/galerie/

„March, march, many as one – shoulder to shoulder and friend to friend!“, lauten die letzten Zeilen eines der legendärsten Demo-Songs aller Zeiten: des The March of the Women der britischen Autorin Cicely Hamilton (1872-1952), vertont von der ebenfalls britischen Komponistin Ethel Smyth (1858-1944).

Als geschlossenes Ganzes wollten sich die britischen Suffragetten geben und waren unter sich doch gespalten: Die einen warfen mutig lautstark Scheiben ein und ließen Briefkästen explodieren, die anderen hielten von zu viel klirrendem Aktionismus nichts und verhandelten diplomatisch auf gemäßigteren Wegen. Doch ein Slogan setzte sich durch: „Deeds – not words“. Taten statt Worte. Eine, die tätlich wurde, war auch Emily Davison. Sie gab für das Frauenwahlrecht sogar ihr Leben, indem sie sich bei einem der damaligen wichtigsten Pferderennen in den Weg des Pferds des Königs stellte, von diesem überrannt wurde und einige Tage danach ihren schweren Verletzungen erlag. In ihrer Hand hielt sie ein Tuch mit den Worten „Votes for women“. Hunderte weißgekleideter Frauenrechtlerinnen gaben ihr – festgehalten auf Zelluloid – das letzte Geleit. England hatte langsam begriffen.

Taten und Aktionen, die in ganz Europa für Veränderungen sorgen sollten. Taten und Aktionen, die geradezu danach schrien, verfilmt zu werden. Im Zuge der aufkommenden Frauengeschichtsforschung wurde die Geschichte der Suffragetten bereits in den 1970er Jahren als Mini-Serie der BBC unter dem Titel Shoulder to shoulder (Regie: Midge Mackenzie) verfilmt, in der selbst die Figur der Ethel Smyth dargestellt wird. Vereinzelt existieren biografische Filme und Dokumentationen, die das Leben der „großen“ Suffragetten und weiteren Frauenrechtlerinnen wie Virginia Woolf (A room of one’s own) darstellen. Ein Film, der einen tieferen Einblick in einen der wichtigsten Teile der Menschheitsgeschichte gibt, existierte bislang allerdings nicht. Mit Erscheinen von Suffragette im Februar 2016 wurde auch in Deutschland eine Lücke geschlossen. Allerdings existieren noch viele derartige Lücken.

Bereits in meinem Studium der Musikwissenschaft befasste ich mich mit vergessenen Komponistinnen – in der wissenschaftlichen Lehre kommen sie an vielen Universitäten und Musikhochschulen als regulärer Teil der Musikgeschichte bis heute nicht vor. Die pure Wut darüber, Leistungen von Frauen in diesem Bereich zu negieren, spornte mich an, mehr darüber wissen zu wollen. So fand ich meinen Weg zum Feminismus, daraus entstand meine eigene Vortragsreihe zu Komponistinnen des 12. bis ins 21. Jahrhundert que(e)r durch die Musikgeschichte – mit meinem Wissen unterstütze ich das in Frankfurt/Main beheimatete Archiv Frau und Musik (ältestes, größtes und bedeutendstes Archiv für Musik von Frauen weltweit) sowie als Mitvorstandsfrau den Verein musica femina münchen. Und so fand ich auch meinen Weg zu Leben und Werk von Ethel Smyth, denn Ethel Smyth und auch Cicely Hamilton waren beide homosexuell.

Mitte Juni 2016 lobte TERRE DES FEMMES über Facebook ein Gewinnspiel aus. Es winkten vier gerade frisch erschienene DVDs zum Film Suffragette (u. a. mit Meryl Streep und Helena Bonham Carter). TERRE DES FEMMES wollte wissen, was einem an diesem Film am besten gefallen hat oder warum man ihn sich gerne anschauen möchte. Sofort fiel mir Ethel Smyth mit ihren Geschichten und ihrer Musik ein, die eines meiner größten Vorbilder ist. Ich schrieb auf der Facebook-Seite von TERRE DES FEMMES folgende eigene Geschichte, mit der ich eine der DVDs gewann:

Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass solch ein neuer Film unter dem Titel Suffragette (Regie: Sarah Gavron) geplant sei, ließ ich einen Freudenschrei los, um dann im nächsten Moment sofort zu grübeln anzufangen: würde eines der wichtigsten Elemente der Suffragettenbewegung hineinkommen? Der The March of the Women? Ich recherchierte, fand aber nur eine postalische Adresse von Abi Morgan, der Drehbuchautorin von Suffragette.

Ich schrieb ihr einen Brief von Hand, um sie zu bitten, den The March of the Women im Film nicht zu vergessen, mit DAS wesentlichste Element des Zusammenhalts unter den Frauen. Dieser Marsch war um 1910 vierstrophig speziell für die Demos der Suffragetten geschrieben worden. Als viele der radikalen Suffragetten inhaftiert wurden, sangen sie diesen Marsch nachweislich ununterbrochen auf Hofgängen im berüchtigten Holloway-Gefängnis. Viele der Frauen traten in Hungerstreik und wurden zwangsernährt.

Ethel Smyth um 1922. © wikimedia commons, allgemeinfrei

Emmeline Pankhurst, mit die Hauptanführerin der Wahlrechtskämpferinnen, soll sich teils als einfache Frau aus dem Volk ausgegeben haben, weil sie für sich wissen wollte, wie mit Frauen aus niedrigeren Ständen verfahren würde, denn Frauen aus höheren Ständen wurden anscheinend nicht zwangsernährt. Auf diese Weise wurde auch Emmeline Pankhurst, die in Hungerstreik ging, dieser folternden Prozedur unterzogen. In ihren Memoiren erzählt Ethel Smyth über diese Zeit und zitiert aus Briefen, die sie von Emmeline Pankhurst erhalten hatte. Darin berichtet Emmeline Pankhurst, wie ihr dieser Marsch sogar das Leben gerettet hatte: In einer Nacht nach einer Zwangsernährungsmaßnahme wollte sie sich umbringen, als sie die Schreie und das Weinen ihrer Mitkämpferinnen nicht mehr länger ertrug. Dann begann sie, diese ganze üble Nacht hindurch den The March of the Women zu singen sowie einen von Ethel Smyth komponierten Choral. An diese letzte Hoffnung, an diesen Mutmacher klammerte sie sich – und überlebte (nicht im Film dargestellt).

Ich schickte meinen Brief mit dieser wertvollen Geschichte darin also ab, eineinhalb Jahre vor Beginn der Filmproduktion. Keine Antwort. Am ersten Tag des Filmstarts war ich folglich im Kino – in britischen und US-Foren (der Film lief dort schon früher an) fragte ich zuvor im Internet, ob der Marsch im Film vorkäme: Niemand konnte es mir bestätigen. Aber: ER KAM DARIN VOR! Zumindest die erste Strophe des Marsches ist komplett mit in den Film eingeflossen! Ich war seligst beglückt. Ein kleiner Tribut auch an Ethel Smyth.

Ethel Smyth selbst war eine der herausragendsten britischen Persönlichkeiten, war fantastische Komponistin und – nach ihrer völligen Ertaubung – sensationelle Erzählerin, die zahlreiche autobiografische Bücher verfasste und somit einen Teil der Suffragettengeschichte(n) überlieferte.

Dieser neue Suffragetten-Film ist – trotz fiktiver Figur der Wäscherin Maud Watts und zu kurzen Auftritten von Emmeline Pankhurst  – hervorragend und bis in kleinste Details umgesetzt. Auch das Pferderennen, bei dem Emily Davison ihr Leben für das Frauenwahlrecht gab, wurde darin großartig nachgestellt und leitet direkt über in historische Aufnahmen dieser Zeit. Allerdings kann auch er nur einen Überblick über diese Zeit bieten. Nichtsdestotrotz gehört dieser Film verpflichtend in jeden Geschichtsunterricht, sollte von Mann und Frau gleichermaßen gesehen werden. Ich würde über jede einzelne Suffragette einen eigenen biografischen Film und/oder eine Dokumentation sehen wollen.

„Jede Frau [und jeder Mann] sollte mindestens ein Jahr lang Frauengeschichte studieren, egal, was sie sonst macht. Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat.“ (Gerda Lerner)

Weiterhin Taten statt Worte!

Zum Weiterlesen:

Ethel Smyth: Impressions That Remained. London/New York 1919/1946.

Ethel Smyth: Streaks of Life. London/New York 1921.

Ethel Smyth: What Happened Next. London/New York 1940.

Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn, Melanie Unseld [Hrsg.]: Felsensprengerin, Brückenbauerin, Wegbereiterin. Die Komponistin Ethel Smyth; Rock Blaster, Bridge Builder, Road Paver: The Composer Ethel Smyth, Allitera, München 2009, ISBN 978-3-86906-068-2.

© Susanne Wosnitzka

Susanne Wosnitzka M. A. studierte nach ihrer Ausbildung zur Tischlerin und Möbelrestauratorin Musikwissenschaft, Klass. Archäologie, Europ. Ethnologie/Volkskunde und Kunstgeschichte an der Universität Augsburg. Während ihres Studiums entwickelte sie die Vortragsreihe Komponistinnen und ihre Werke im Spiegel ihrer Zeit. Susanne Wosnitzka arbeitet freischaffend u. a. für das Archiv Frau und Musik Frankfurt/Main, als Stadtführerin in Augsburg zum Thema FrauenMusikKultur-Geschichte, ist wiss. Beirätin der Deutschen Mozart-Gesellschaft, im Vorstand von musica femina münchen e. V. und Doktorandin. Zurzeit entstehen Publikationen zur Augsburger und süddeutsch-reichsstädtischen Musikgeschichte. Ein Schwerpunkt ihrer Forschungen ist auch lesbisches Leben v. a. im 18. Jahrhundert.

www.susanne-wosnitzka.de

The March of the Women auf  Youtube

Schulmaterial zum Film von Concorde Home Entertainment gibt es hier

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